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Diabetes Initiative Österreich
4GAMECHANGERS HEALTH TALKS

Kranke Bundesländer – Wo wir am besten versorgt sind

Die Diabetes Initiative Österreich wechselt mit ihren Diskussionsrunden vom „Diabetes im Zentrum“ auf die Bühne des landesweiten Fernsehens. Im Rahmen der 4GAMECHANGERS HEALTH TALKS am 20. Oktober 2021 ging es um die weiterhin zersplitterte Versorgungslandschaft zwei Jahre nach Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse.

Über mehrere Jahre hat die Diabetes Initiative Österreich (DIÖ) in der Veranstaltungsreihe „Diabetes im Zentrum“ zu Stakeholder-Gesprächen geladen, um aktuelle Themen im Zusammenhang mit Diabetes mellitus zu diskutieren, Problemstellungen zu definieren und in der Folge Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Nicht zuletzt soll damit das Verständnis zwischen den vielen Playern im österreichischen Gesundheitssystem gefördert werden.

Mit den 4GAMECHANGERS HEALTH TALKS des Fernsehsenders PULS 24 nutzt die DIÖ ein neues Forum, um ihre Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen. Den Auftakt macht ein Themenkomplex, der die Diabetes-Community seit vielen Jahren beschäftigt, mit der Fusion der Gebietskrankenkassen und einiger Betriebskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) aber evident geworden ist: Dass nämlich trotz gleicher gesetzlicher Regelungen und Beitragssätze die Gesundheitsleistungen regional zum Teil weiterhin stark variieren. Von den versprochenen Vorteilen der Kassenfusion ist oft wenig zu spüren, teilweise wurden durch wechselnde Zuständigkeiten sogar bestehende pragmatische Lösungen außer Kraft gesetzt.

Als chronische Erkrankung, die rund zehn Prozent der Bevölkerung betrifft und vielfältige Ressourcen des Gesundheitssystem beansprucht, bietet sich Diabetes mellitus geradezu exemplarisch an, regionale Unterschiede in der österreichischen Gesundheitsversorgung zu thematisieren. Als Ausgangspunkt der Diskussion diente beispielhaft die unterschiedliche Erstattungspraxis bei Pen-Nadeln, Wundverbänden und Messgeräten bzw. Sensoren. DIÖ-Präsident Thomas Wascher zum Hintergrund der Diskussion: „Alle Menschen, die im Gesundheitswesen mit dem Thema Erstattung von Arzneimitteln oder Heilbehelfen befasst sind, wissen, dass es zwischen den Gebietskrankenkassen große Unterschiede gab. Man sollte glauben, dass mit der ÖGK die Unterschiede zu verschwimmen beginnen, das ist aber nur teilweise so.“

Wascher skizzierte den Fall einer ÖGK-Versicherten mit Typ-1-Diabetes, deren gewohnte Nadeln vom kontrollärztlichen Dienst der Kasse seit einiger Zeit nicht mehr genehmigt werden, obwohl die Patientin von Problemen (Schmerzen, blaue Flecken) im Zusammenhang mit den Alternativnadeln berichtet. Für Wascher „seltsam, weil ich immer die gleichen Nadeln als Heilbehelf verordnet habe und beide Nadeltypen von der Sozialversicherung erstattet werden, allerdings kostet der eine Nadeltyp um ein paar Euro-Cent weniger als der andere. In Wien würde sie ihre Nadeln ohne Probleme bekommen. Das war ein Aufhänger, der mich dazu gebracht hat, das Thema Versorgungsungleichheit zu thematisieren.“

Komplexes Erbe der Gebietskrankenkassen

ÖGK-Chefarzt Andreas Krauter wies darauf hin, dass vielerorts in der Sozialversicherung, nicht nur in der ÖGK, an der Vereinheitlichung der Genehmigungspraktiken gearbeitet werde: „Wir stimmen uns auch mit den anderen Sozialversicherungsträgern ab, damit die Patientinnen und Patienten tatsächlich in einigen Jahren sagen können: Ja, ich bin gleich gut versorgt.“ Krauter warb um Verständnis und Geduld angesichts der Komplexität der Aufgaben: „Wir haben unterschiedliche Strukturen, die wir auf der Ebene der Vertragslandschaft erst schrittweise zusammenführen müssen. Vieles müssen wir, mit unseren Partnern –  den Kliniken, den Fachgesellschaften, den PatientInnenanwaltschaften etc. –  auch erst analysieren.“

Gerald Gschlössl, Präsident des Branchenverbandes der Medizinprodukte-Hersteller AUSTROMED, dazu: „Ich sehe die Schwierigkeiten, die so ein großer Apparat mit sich bringt, aber das wird der Patient nicht verstehen. Wir haben in der Corona-Pandemie gesehen, dass viele schwerfällige Prozesse, die unser System mit sich bringt – Rezept und Verordnung, Chefarztpflicht, Einreichen etc.  –  mit einem Mal sehr unbürokratisch gehandhabt wurden, weil wir gezwungen waren, schnell praktikable Lösungen zu finden.“ Es sei nicht nachvollziehbar, warum Menschen, die das gleiche einzahlen, unterschiedlich versorgt werden. Gschlössl: „Wir wollen, dass die Leistungen harmonisiert werden und ich meine, dass das schneller funktionieren kann, wenn wir uns alle an einen Tisch setzen.“

Für Fredric Debong, Mitbegründer des App-Herstellers mysugr und heute Mitbegründer und Chief Science Officer von hi.health, eines auf Finanzdienstleistungen im Gesundheitswesen spezialisierten Unternehmens, sind die Kassen noch nicht in der modernen Welt der Digital Services angekommen. Zwar sei es wichtig, wenn Veränderung in der Gesundheitsversorgung nicht übereilt vonstatten gehe. Allerdings könnten die veralteten Strukturen der Sozialversicherung mit der Dynamik der technischen Entwicklung und mit den Erwartungen der Versicherten nicht Schritt halten.

Fragmentierung der Zuständigkeiten

Sigrid Pilz, PatientInnen-Anwältin in Wien, sah im „Kantönligeist“, der auch im Gesundheitswesen spürbar sei, eine Ursache vieler Probleme. Eine gerade für Menschen mit chronischer Erkrankung unmittelbar spürbare Folge sei ein Wirrwarr der Zuständigkeiten. Auf der anderen Seite würden viele, die sich mit dem Management ihrer Diabeteserkrankung im Alltag überfordert fühlen, nur ihr eigenes, vielleicht negatives Schicksal sehen, sich aber nicht bewusst machen, dass auch systemische Defizite bestehen, wenn Menschen mit Diabetes zwischen zwei Arztbesuchen völlig auf sich allein gestellt sind. Den Betroffenen zu helfen und diesbezügliche strukturelle Probleme der Gesundheitsversorgung anzuprangern, sei auch eine Aufgabe der PatientInnen-Anwaltschaften, so Pilz.

Für Nationalratsabgeordnete Fiona Fiedler fehlen durch die getrennte Finanzierung von Kassen und Gesundheitsfonds Anreize für ein gezieltes Vorgehen in der Diabetesversorgung, nicht zuletzt bei der Umsetzung und Weiterentwicklung des „Therapie-Aktiv“-Programms. Sie plädierte dafür, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten stärkere Anreize zu bieten, Menschen mit Diabetes in Therapieprogramme einzuschließen. Zudem sollten Einsparungen im Spitalsbereich, die sich aus dem Ausbau der Primärversorgung ergeben, dorthin zurückfließen. Fiedler: „Wenn die Einsparungen weitergegeben werden, hat die Kasse mehr Ansporn, die Patienten weiterzuvermitteln.“

Keine Datenbasis für Versorgungsplanung

Ein weiteres Grundproblem liegt für PatientInnen-Anwältin Pilz im Fehlen aussagekräftiger Daten für die Versorgungsplanung: „Wir haben kein Diabetesregister, wir wissen nicht einmal, wie viele Amputationen als Spätfolgen von Diabetes durchgeführt werden – wir wissen nur, dass wir sehr hoch liegen.“ Zustimmung kam in diesem Punkt von AUSTROMED-Präsident Gschlössl, der die Kooperation der Medizinprodukte-Hersteller beim Aufbau eines gesamtösterreichischen Diabetesregisters anbot: „Da wollen wir aktiv mitgestalten, weil wir Daten haben, die wir zur Verfügung stellen können.“

Weitere Forderung des Branchenverbandes: Zugang zu technischen Innovationen für alle Menschen mit Diabetes: Von den 700.000-800.000 Menschen mit Diabetes in Österreich würden von den in Österreich tätigen Medizinprodukte-Unternehmen nur rund 180.000 beliefert, so Gschlössl. „Es gibt einen Riesen-Gap von Menschen, die nicht versorgt werden. Die müssen wir mitnehmen!“

Was ist zu tun?

ÖGK-Chefarzt Andreas Krauter versicherte den Partnern im Gesundheitssystem die Bereitschaft der Sozialversicherung zu Dialog und Kooperation. PatientInnenanwältin Sigrid Pilz sah in der Öffnung des arztzentrierten Systems des Diabetesmanagements durch verstärkte Einbindung weiterer Berufsgruppen in Primärversorgungseinheiten eine Voraussetzung für die Verbesserung der Versorgungsqualität.

Die Vertreter von Ärzteschaft (Thomas Wascher) und Medizintechnik (Fredric Debong, Gerald Gschlössl) waren sich einig, dass die strukturellen Probleme des heimischen Gesundheitswesens den Anspruch der Versicherten auf eine österreichweit einheitliche und zeitgemäße medizinische Versorgung nicht schmälern dürfen. Ebenso wie die öffentliche Verwaltung muss sich auch die Sozialversicherung hinsichtlich Service-Qualität und Geschwindigkeit mit den Standards der großen digitalen Dienstleister messen, um die Akzeptanz der Versicherten auf Dauer sicherzustellen.

Konsens gab es schließlich in dem Punkt, dass der Diabetes-Community, insbesondere einer organisierten und selbstbewusst auftretenden PatientInnenvertretung, bei der Beschleunigung des Umbaus des Versorgungssystem hin zu mehr Transparenz, Fairness und Service-Orientierung eine entscheidende Rolle zukommen wird.

Bericht: Dr. Albert  Brugger

Video:
4GAMECHANGERS HEALTH TALKS
„Kranke Bundesländer – Wo wir am besten versorgt sind“

20. Oktober 2021, PULS 24.

Es diskutierten:

  • Fredric Debong, Co-Founder & Chief Science Officer hi.health
  • Mag. Fiona Fiedler, Abgeordnete zum Nationalrat, NEOS
  • Gerald Gschlössl, Präsident AUSTROMED
  • Dr. Andreas Krauter, Ärztlicher Leiter, Österreichische Gesundheitskasse
  • Dr. Sigrid Pilz, Patienten- und Pflegeanwältin, Wien
  • Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher, Präsident der Diabetes Initiative Österreich

Moderation:

  • Martin Rümmele, Gesundheitsjournalist

Zitate:

„Wir sind beispielsweise bei den Blutzuckermessgeräten auf dem Weg, dass es österreichweit einen einheitlichen Genehmigungsweg gibt, auch bei Spritzennadeln und Lanzetten. Aber da gibt es so unterschiedliche Lösungen [...], dass wir uns erst schrittweise heranarbeiten können. Das wird ganz einfach noch eine gewisse Zeit dauern.
Dr. Andreas Krauter, Österreichische Gesundheitskasse

„Wenn wir heute von Diabetes reden, dann sind die Menschen oft der Meinung, es sei ausschließlich ihr eigenes Schicksal, wenn sie das Gefühl haben, dass sie nicht zurechtkommen, nicht wissen, wie sie ihre Krankheit steuern sollen. Wenn wir sehen, dass hinter diesem Einzelschicksal ein Strukturdefizit steckt, dann schlagen wir Alarm.“
Dr. Sigrid Pilz, PatientInnen- und Pflegeanwältin, Wien

„Wir haben in er Corona-Pandemie gesehen, dass viele schwerfällige Prozesse, die unser System mit sich bringt – Rezept und Verordnung, Chefarztpflicht, Einreichen … – mit einem Mal sehr unbürokratisch gehandhabt wurden, weil wir gezwungen waren, schnell praktikable Lösungen zu finden.“
Gerald Gschlössl, AUSTROMED

„Österreich war Vorreiter in der modernen algorithmischen Insulintherapie, wie Insulindosen berechnet und angepasst werden, Vieles davon stammt aus Österreich. Wenn wir auf die Themen schauen, wo ich mich bewege – Digitalisierung der Gesundheit, digitale Angebote für Gesundheit –, da hinkt Österreich stark hinterher.“

„Es fehlt in unserer Gesellschaft die Möglichkeit, jedem Patienten zuzuhören, das ist unmöglich. Wenn wir als Patienten zusammen auftreten, können wir helfen, dass sich die Gesellschaft in die richtige Richtung bewegt. Deshalb ist es enorm wichtig, dass wir aktiv werden.“
Fredric Debong, hi.health

„Ich sehe das Problem der Zuständigkeiten: Die Kassen sind für die Ärzte zuständig, die Bundesländer für die Spitäler. Wenn man die Zuständigkeiten zusammenfassen und sagen würde: die Mittel der Gesundheitsfonds der Länder fließen in die Kassen ein, dann haben auch die Kassen einen größeren Anreiz, die Patienten an Therapieprogramme zu vermitteln.“
Mag. Fiona Fiedler, Abgeordnete zum Nationalrat, NEOS

„Wir alle sind aufgefordert, in Sachen Harmonisierung schnell darauf einzuwirken, dass die Versorgungsqualität nicht mehr davon abhängt, in welchem Bundesland jemand lebt – nicht, weil dort andere rechtliche Grundlagen gelten würden, sondern aufgrund von irgendwelchen lokalpatriotischen Befindlichkeiten Auf der anderen Seite müssen wir als behandelnde Ärztinnen und Ärzte müssen die betroffenen Patientinnen und Patienten dazu bringen, aktiv zu werden. Nur wenn die Versicherten ihre Anliegen an die Versicherungen herantragen, und zwar so häufig und so vehement, dass es nicht überhörbar ist, werden die Versicherungen beginnen, sich schneller zu bewegen.“
Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher, Diabetes Initiative Österreich