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Diabetes Initiative Österreich

Kinder mit Diabetes – ein unlösbares Schulproblem?

Von Typ-1-Diabetes betroffene Kinder benötigen neben der Unterstützung durch ihr unmittelbares familiäres Umfeld auch die entsprechende Kompetenz und Bereitschaft in der Schule. Wie die Erfahrung zeigt, stellt dies jedoch in vielen Fällen eine kaum überwindbare Hürde dar. Die Identifizierung der Barrieren und Lösungsansätze, die im Rahmen der 1. Diskussionsveranstaltung der 2. Saison der Diskussionsreihe Diabetes im Zentrum erarbeitet wurden, lassen hoffen, dass dies nicht notwendigerweise so bleiben muss.

Als Diskussionsgrundlage berichtete ein 16-jähriger Schüler, bei dem im Alter von 12 Jahren Typ-1-Diabetes diagnostiziert worden war, von seinen – durchwegs positiven – Erfahrungen mit Schulkollegen und Lehrern. Als Schlüssel dafür identifizierte er den offenen Umgang mit seiner Diagnose und die sofortige umfassende Information seiner schulischen Kontaktpersonen, die einen großen Teil der Bedenken und Vorurteile ausräumen konnte. Allerdings zeigte die anschließende Diskussion, dass es sich bei dieser Situation um einen „Glücksfall“ handelt, der von der breit geübten Realität doch deutlich abweicht. So sind zahlreiche Fälle aus allen Bundesländern bekannt sind, in denen Kinder mit Typ-1-Diabetes nicht in eine Schule oder einen Kindergarten aufgenommen wurden bzw. die Einrichtung nach der Diabetesdiagnose (beinahe oder tatsächlich) verlassen mussten. Des Weiteren gibt es zahlreiche Berichte, wonach Kinder mit Diabetes nicht an Schulveranstaltungen wie z. B. Schikursen und Sportwochen teilnehmen dürfen.
Die Dringlichkeit der Thematik wurde in der Diskussion insofern als hoch eingestuft, als in Österreich 196.000 Schulkinder von einer behandlungsbedürftigen chronischen Erkrankung betroffen sind (Quelle: Health Behaviour in School-aged Children Study [HBSC-Studie], die größte europäische Kinder- und Jugendgesundheitsstudie, die in enger Kooperation mit dem Europabüro der WHO von einem multidisziplinären Forschernetzwerk realisiert wird. In Österreich wird die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen vom Institut für Gesundheitsförderung und Prävention durchgeführt).

Bestehende Barrieren

Laut den Erfahrungen der im Schulbetrieb stehenden Diskussionsteilnehmer wurden mehrere Gründe für die Vorbehalte gegenüber Kindern mit Diabetes identifiziert. Im Vordergrund steht demnach die Angst vor der Verantwortung im Umgang mit den betroffenen Kindern vor allem im Hinblick auf die Entwicklung einer Hypoglykämie. Weitere wichtige Aspekte sind fehlende Ressourcen angesichts eines erhöhten Betreuungsbedarfs und juristische Unklarheiten. Die Bedenken betreffen sowohl den Schulalltag als auch im Besonderen Schulveranstaltungen wie Schikurse und Sportwochen (siehe auch Kasten).

Ängste durch mangelndes Wissen: Die Basis für die Bedenken orteten die Diskussionsteilnehmer unisono im Unwissen der Betreuungspersonen betreffend die grundlegenden Fakten zum Thema Diabetes. Neben den bereits genannten Auswirkungen resultieren daraus auch Verhaltensweisen oder pädagogische Maßnahmen, die den Bedürfnissen der betroffenen Kinder nicht gerecht werden wie z. B. das Bestehen auf der strikten Einhaltung von Pausenzeiten, auch wenn die geplante Mahlzeit noch nicht gegessen werden konnte.
Ein weiterer Aspekt ist die zunehmende Technisierung der Behandlung insbesondere bei Typ-1-Diabetes. Diese stellt für gut Geschulte durchaus eine Erleichterung im Therapiealltag dar, bedeutet aber für Lehrpersonen eine zusätzliche Herausforderung.
Allerdings wurde aus unterschiedlichen in Österreich durchgeführten Befragungen klar, dass der Wissensstand zum Thema Diabetes auch bei Schulärzten mitunter nicht adäquat ist.

Hürde Freiwilligkeit: Der im Ärztegesetz festgehaltene Passus, wonach sowohl medizinische Tätigkeiten als auch die dafür notwendigen Schulungen auf Freiwilligkeit beruhen (siehe Rechtlicher Status), dient einerseits der rechtlichen Absicherung der Lehrpersonen, andererseits werden damit Versäumnisse toleriert, die den adäquaten Umgang mit betroffenen Schülern verhindern. Aus der gelebten Praxis zu schließen, sind auch die Aufnahme an eine Schule/einen Kindergarten sowie die Erlaubnis zur Teilnahme an Schulveranstaltungen freiwillig. Besonders widersprüchlich erscheint dies angesichts der aktuell angestrebten Inklusion aller Kinder in ein einheitliches Schulsystem, ungeachtet eventuell bestehender Krankheiten oder Behinderungen.

Hürde Rechtsunsicherheit: Viele Lehrer äußern als Grund für ihre Zurückhaltung im Umgang mit chronisch kranken Schülern Sorgen, im Fall von Komplikationen rechtlich belangt zu werden.

Rechtlicher Status quo

Im Ärztegesetz ist festgehalten, dass medizinische Tätigkeiten an Laien (z. B. Eltern) und in der Folge an weitere Laien (z. B. LehrerInnen, KindergärtnerInnen, BetreuerInnen) delegiert werden können. Zuvor muss eine ausreichende Schulung stattfinden; diese muss nicht von Ärzten, sondern kann auch von Pflegefachkräften (z. B. Diabetes-Nannys) durchgeführt werden.
Wichtig dabei: Die Lehrpersonen haben das Recht, die Übernahme dieser Tätigkeit zu verweigern.

Durch Verabschiedung des neuen Bildungsgesetzes im Sommer 2017 hält das Bildungsministerium nun fest, dass die Gabe eines ärztlich verschriebenen Notfallmedikamentes zu den sich aus der lehramtlichen Stellung ergebenden Obliegenheiten im Sinne des Dienstrechts zählt. Im Falle eines Schadens trägt die Schülerunfallversicherung die Heilungskosten, eine Inanspruchnahme der Lehrkraft wird durch das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) verhindert.
Problem: Für Kindergartenpersonal gibt es keine ähnliche Gesetzgebung, hier sind lokale individuelle Lösungen notwendig.

Die Bedenken der Lehrerinnen und Lehrer

  • Lehrer haben Angst, weil sie zu wenig Wissen über die Therapie und zu wenig Einblick in den Therapieverlauf des Kindes mit Diabetes haben.
  • Lehrer sind überfordert im Umgang mit Pumpen und fürchten sich vor der Technik.
  • Lehrer müssen für ein Kind mit Diabetes vorausdenken und -planen (Tagesablauf, Bewegung, Beschaffung zusätzlicher Broteinheiten, Essen kontrollieren).
  • Lehrer haben Sorge, Hypoglykämien bei Schülern mit Diabetes nicht zu erkennen und/oder falsch zu handeln/reagieren.
  • Lehrer haben Angst vor Vorwürfen seitens der Eltern, wenn Schwierigkeiten in der Therapie auftreten sollten.
  • Lehrer haben Angst, all dieser zusätzlichen Verantwortung im sehr abwechslungsreichen Schulalltag oder auf Schulveranstaltungen nicht gewachsen zu sein.
  • Lehrer fürchten sich auch vor gesetzlichen Maßnahmen, falls es zu Anschuldigungen kommt.
  • Lehrer stehen im Schulalltag unter großem Zeitdruck und fühlen sich in der Hektik oft überfordert.
  • Lehrer sind für alle Schüler einer Klasse verantwortlich und haben für ein harmonisches Miteinander in der Klassengemeinschaft Sorge zu tragen.


Bisherige Bemühungen

In der Steiermark wurden für Lehrer bereits Möglichkeiten geschaffen, sich über Diabetes im Hinblick auf betroffene Schüler zu informieren. Dafür konnten einerseits vier Institutionen als Ansprechpartner für allfällige Fragen im Zusammenhang mit Diabetes gewonnen werden. Andererseits findet an der Pädagogischen Hochschule in Graz zumindest einmal pro Jahr ein Vortrag statt, bei dem bereits fertig ausgebildete Lehrer durch die Leiterin der Klinischen Abteilung für allgemeine Pädiatrie der Universitätsklinik Graz grundlegend zum Thema „Diabetes bei Kindern“ informiert werden, wobei auch praktische Aspekte etwa zum Umgang mit betroffenen Kindern im (Schul-)Alltag besprochen werden. Die Informationsveranstaltung wird von den Lehrern bereits gut angenommen, zusätzlich sollte die Breitenwirksamkeit nicht unterschätzt werden.

Auf der Website https://www.diabetes-austria.com/ wurde eine Abfrage zu diabetesbezogenen Problemen im Zusammenhang mit Bildungseinrichtungen durchgeführt, die regen Zuspruch fand. Die Ergebnisse wurden ausgewertet und dem Parlament vorgelegt.
Für die Information von Lehrpersonen zum Umgang mit chronisch kranken Kindern wurden bereits einige Broschüren und Kurzfilme erstellt. Künftige Bemühungen sollten darauf verwendet werden, diese Aktivitäten zu bündeln und gesammelt für alle zugänglich zu machen.

Lösungsansätze

Enge Kooperation zwischen Schülern, Eltern und Schule wurde als Grundprinzip genannt, um die Schulzeit für Kinder mit Diabetes erfolgreich zu absolvieren. Dies betrifft neben der umfassenden Information der Lehrer und Klassenkollegen nach der Diagnose und einem ständigen intensiven Austausch im Schulalltag vor allem einen engen Kontakt während Schulveranstaltungen, um Unsicherheiten betreffend Zuckerwerte oder Insulindosis zu besprechen bzw. auszuräumen. Die Erstellung eines Informationsblattes für den individuellen Schüler durch seine Eltern kann von vorne herein Unsicherheiten gering halten. Der Schulalltag könnte erleichtert werden, wenn bereits bei der Aufnahme im Sinne eines „Aufnahme-Assessments“ erhoben wird, was für einen reibungslosen Ablauf zu beachten ist.

Schulung der Lehrer … An erster Stelle der Maßnahmenvorschläge stand bei allen Diskussionsteilnehmern eine entsprechende inhaltliche Informationsvermittlung an die Lehrer. Die Ideen der Ausgestaltung reichten dabei von der anlassbezogenen Schulung, wenn ein Schüler mit Diabetes aufgenommen wird, bis zur fixen Verankerung der Thematik im Curriculum der pädagogischen Hochschulen. Eine weitere Möglichkeit wäre, das Thema in die verpflichtende Lehrerfortbildung aufzunehmen. In jedem Fall sollte die Schulung mehrere Bereiche umfassen und sowohl grundlegendes medizinisches Wissen zum Diabetes (Diabetes-Typen, Ernährungsrichtlinien, Therapieschemata etc.) als auch Tipps zum konkreten Umgang mit betroffenen Kindern im Alltag beinhalten. Ein ständiges begleitendes Coaching könnte dazu beitragen, den Level des erworbenen Wissens hoch zu halten.

… zum Abbau von Ängsten: Einigkeit bestand darüber, dass die Schulungen interaktiv und mit praktischen Beispielen gestaltet werden sollten. Als unterstützende Materialien wurden Broschüren und vor allem Kurzfilme mit entsprechenden Inhalten propagiert. Ein zentrales Ziel aller Schulungsmaßnahmen sollte sein, die Ängste und Bedenken der Lehrer abzubauen. Dazu könnte beitragen, erfolgreich gemeisterte Situationen zu dokumentieren und im Rahmen von Schulungen vorzustellen. Analog zu sozialen Themen könnte auch im Hinblick auf Diabetes an jeder Schule ein Vertrauenslehrer implementiert werden.
Die Frage, durch wen die Schulung der Lehrer erfolgen soll, konnte nicht abschließend beantwortet werden.

Das „empathische Moment“ stärken: Vermehrtes Wissen zum Thema Diabetes soll bei Lehrpersonen dazu führen, die Bedürfnisse der betroffenen Schüler besser wahrnehmen und adäquat sowie mit Verständnis reagieren zu können. So können etwa ausgehend vom Wissen um die Entstehung von Hypoglykämien sehr leicht einfache präventive Maßnahmen wie das Verabreichen von Traubenzucker oder das Verlängern der Essenspause gesetzt werden – sofern zusätzlich die Aufmerksamkeit besteht, die Vorzeichen wahrzunahmen. In Summe soll somit das Wissen auch die Sensibilität für die Bedürfnisse erhöhen. Dieser Ansatz sollte im Idealfall auf die gesamte Klassengemeinschaft ausgeweitet werden, um auch von dieser Seite die entsprechende Unterstützung sicherzustellen.

Fortbildung der Schulärzte: Schulärzte sind prinzipiell verpflichtet, Fortbildungen zu absolvieren und können diese entsprechend ihren Interessen aus einem breiten Angebot wählen. Es konnte bereits beobachtet werden, dass durch diese Fortbildungsveranstaltungen die Sensibilisierung für bestimmte Themenbereiche erhöht wurde. Angedacht wurde in der Diskussion, das Thema Diabetes fix im Rahmen der Qualitätszirkel zu verankern.

Unterstützung durch die Industrie: Seitens der Industrie wurden Möglichkeiten eingeräumt, die notwendige Wissensvermittlung an Lehrer, aber auch an Schulärzte, finanziell zu unterstützen. Dazu kann unter anderem auch zählen, Strukturen für die Bündelung von Wissen und den leichteren Zugang dazu anzubieten oder nutzerspezifische Apps für Kinder zur Verfügung zu stellen.

Rechtliche Absicherung für Kindergärten: Während im neuen Bildungsgesetzes aus dem Jahr 2017 klar verankert ist, dass Lehrer bei der Unterstützung kranker Kinder der Amtshaftung unterliegen und somit rechtlich abgesichert sind, ist dies für Kindergärten nach wie vor nicht der Fall, weil sie nicht dem Bildungsministerium unterliegen. Die Diskussionsteilnehmer forderten diesbezüglich eine Gleichstellung mit den Lehrern, um auch in diesem Bereich die Bedenken und Vorbehalte bei der Aufnahme von Kindern mit Diabetes abzubauen.

Moderation
  • Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, Präsident der Diabetes Initiative Österreich (DIÖ)
Teilnehmer
  • Dipl. Päd. Bettina Blanc-Kauffmann, Betroffene, Lehrerin und Mutter dreier Kinder
  • Dr. Lilly Damm, Public Health MedUni Wien
  • DI Harald Führer, ehemaliger Leiter der Diabären
  • Thomas Führer, Schüler, von Typ-1-Diabetes betroffen
  • Dr. Roman Häfele, Stadtschulrat Wien, zust. Referent für schulärztliche Angelegenheiten,
  • DI Martin Hochstöger, Abbott
  • Peter Hopfinger, www.diabetes-austria.com
  • Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, ÖDG
  • Mag. Sabine Lang, Head Communication, Sanofi, Gesünder unter 7
  • Helmut Thiebet, ÖDV, Lehrer
  • Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher, DIÖ

Videos – Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher im Gespräch mit:

Dr. Roman Häfele
DI Harald Führer
Dipl. Päd. Helmut Thiebet